Jeden Morgen schaue ich als erstes aus dem Fenster,
um zu überprüfen, ob die Welt noch da ist.
Danach schaue ich für den Rest des Tages nicht mehr aus dem Fenster.
Denn jedesmal, wenn ich aus dem Fenster schaue,
fällt eine Frau aus einem Fenster des gegenüberstehenden Hauses.
Es ist immer dasselbe Fenster, und es ist immer dieselbe Frau.
Es ist eine magere, fast verhungert aussehende Frau.
Sie trägt einen viel zu großen, geblümten, speckig glänzenden Morgenmantel,
wie ihn Concièrges in französischen Spielfilmen der 50er Jahre tragen.

BEugen Haas Paranorama

Ich weiß nicht, ob ich den Sturz der Concièrge auslöse,
oder ob ihr Sturz auf meinen morgendlichen Blick abgestimmt ist.
Ich weiß nicht einmal, ob ihr Sturz ein Unfall, ein Sprung oder ein Verbrechen ist.
Ich weiß nicht, ob sie sich fallen lässt oder gestoßen wird.
Ich weiß nur, dass ich für all dies irgendwie verantwortlich bin.
Aber ich weiß nicht, woher ich das weiß.

Jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster schaue, ist die Concièrge schon im Fallen begriffen,
unabhängig von der Uhrzeit, zu der ich aus dem Fenster schaue.
Und ich kann nun einmal nicht früher aus dem Fenster schauen, als ich aus dem Fenster schaue.
Die Concièrge fällt, ohne Schrei.
Sie fällt in einen Raum, der unendlich zu sein scheint,
denn nie höre ich ein Geräusch des Aufpralls.
Der Raum unterhalb ihres Fensters muss unendlich sein.
Aber ich traue mich nicht, mich aus dem Fenster zu beugen,
um diesen Raum anzuschauen.
Denn ich fürchte, das Schicksal der Concièrge zu teilen,
die wahrscheinlich gar keine Concièrge ist, denn in Berlin gibt es keine Concièrges.
Wahrscheinlich ist sie eine Mitarbeiterin der Wohnungsgenossenschaft, die mir diese Wohnung vermietet, vielleicht eine frei Mitarbeiterin, die über die Angst um ihr unsicheres Einkommen depressiv oder anders verrückt, jedenfalls irgendwie suizidal geworden ist, vielleicht auch nicht, denn dann würde sie ja nicht jeden Morgen diesen anscheinend zum Scheitern verurteilten Versuch unternehmen, sich das Leben zu nehmen, oder vielleicht gerade deshalb, weil eine Erfolg erst dann zu erwarten ist, wenn sie diesen Versuch eine wie auch immer definierte ausreichende Anzahl wiederholt hat, somit der Erfolg ihres Suizidversuchs die Belohnung für ihre Beharrlichkeit wäre - das alles natürlich nur unter der Voraussetzung, dass sie sich wirklich umbringen will und nicht etwa jemand anderes ihr nach dem Leben trachtet oder sie vielleicht auch nur im Rahmen eines gemeinsamen, lustvollen Spieles, das eher neckischen als zerstörerischen Charakter hätte, immer und immer wieder aus dem Fenster stößt, und dass die falsche Concièrge eher jedesmal vor Freude jauchzen sollte wie ein Kind, anstatt zu fallen wie ein Stein.

Weil all dies so vage ist,
und weil ich andererseits dieses unbestimmte, aber dennoch starke - Empfinden muss ich ja wohl sagen - meiner persönlichen Verantwortung für alle Fälle, die sich draußen in der Welt ereignen, habe,
deshalb schaue ich für den Rest des Tages nicht mehr aus dem Fenster.
Ich möchte nicht, dass noch mehr Dinge geschehen in meinem Namen,
und es ist für mich in keinster Weise entlastend, dass die Frage, ob diese Dinge in meinem Namen geschehen, in keinster Weise beantwortet ist.

Ich habe lange darüber nachgedacht,
ob ich diesen einen Blick am Morgen auch bleiben lassen sollte,
aber ich konnte mich nicht dazu entschließen.

Die Klärung der Frage, ob die Welt noch da ist, ist für mich von zentraler Bedeutung.
Insgeheim hoffe ich, dass die Welt eines Morgens verschwunden sein könnte.
Denn dann könnte ich gänzlich ungehemmt den ganzen Tag aus dem Fenster schauen.

Und ich würde zu gerne erfahren, wie das Draußen dann wäre – ohne Welt.