Die Zeit geht:
 


Das nehme ich persönlich.
Manche behaupten, man könne die Zeit für sich arbeiten lassen.
Aber die Zeit arbeitet nicht.
Die Zeit geht.
Die Zeit vergeht.
Die Zeit vergeht mit der Zeit.
Oder besser:
Sie läßt sich gehen.
Denn sie hat Zeit, die Zeit.
Sie hat alle Zeit - unsere Zeit.

Könnte man sie totschlagen,
ja dann:
dann könnte man sie anhalten, einfach liegenlassen und weitergehen.
Aber man kann sie nicht totschlagen.
Sie vergeht, und es bleibt nicht mehr viel Zeit.

An dieser Stelle denke ich an Kafka.
Und Kafka denkt zurück.
Jedesmal, wenn ich an Kafka denke,
denkt Kafka zurück.
Kafka hatte einen Nagel im Kopf.
Alle konnten ihn sehen.
Aber nur er konnte ihn spüren.
Und er hoffte, die Zeit könne diese Wunde heilen.
Diese Hoffnung war auch nicht ganz ehrlich.
Denn Kafka wußte, daß er kein Recht auf Heilung hatte.
Deshalb zog er den Nagel nicht heraus.

Kafka wusste auch:
Die Zeit heilt keine Wunde.
Heilen ist Arbeit.
Und die Zeit arbeitet nicht.


Kafka ist tot - und ich lebe.

Das ist ungerecht,
denn Kafka hatte einfach viel mehr drauf als ich, mehr, als ich jemals draufgehabt haben werde.

Ja, es ist ungerecht.

Ich sollte tot sein an Kafkas Stelle.
Und er sollte leben an meiner Stelle.

Am 3.Juli 2024 könnte er bei bester Gesundheit im Kreise seiner Lieben seinen 142.ten Geburtstag feiern.
Ich fühle mich schuldig.
Ein Gefühl, das mich mit Kafka verbindet.

Oder Getrude Stein.
Die hatte es auch drauf.
Auch sie sollte leben an meiner Stelle.
"Ich selbst habe Gewalttaten nie leiden können, sondern immer Freude am Sticken und Gärtnern gehabt."

Oder Erik Satie - auch er:
"Mein Arzt rät mir zum Rauchen. Rauchen Sie, sagt er, sonst rauchen bald andere an Ihrer Stelle."

Klar, das alles hätte auch mir einfallen können.
Und nicht nur das.
Auch ich hätte zum Beispiel irgendwann ein weißes Quadrat auf einen weißen Hintergrund malen können.
Aber ich habe es nicht getan.
Stattdessen habe ich aus dem Fenster, in den Keller oder nirgends hin geschaut.
Ich habe darüber nachgedacht, was irgendwelche Menschen zu Mittag essen, warum die Frau, die ich in der U-Bahn anstarre, mich keines Blickes würdigt, mit welchem Recht Kinder ihre Eltern überleben. Und immer wieder habe ich darüber nachgedacht, was es wohl zu Mittag gibt.
Mahlzeit!
Jeder Maler und Lackierer war näher daran als ich, ein weißes Quadrat auf weißem Hintergrund zu malen.
Da mache ich mir nichts vor.
Da lügt mir auch sonst niemand in die Tasche.


Jetzt ist schon wieder viel Zeit vergangen.
Dieser Text hat mich und Sie viel Zeit gekostet,
wertvolle Zeit, in der man für die Zukunft unserer Kinder hätte arbeiten können.
Ich bin seit Tagen auf dieser Welt und habe noch Tage zu leben.
Tage, das ist ungefähr so viel wie 1,5 Tonnen Brot.
Aber 1,5 Tonnen Brot auf Tage sind nur eine Scheibe Brot am Tag.
Und Tage auf Tage sind nur ein Tag pro Tag.

Betrachten Sie vor diesem Hintergrund die Tätigkeit eines Buchhalters in einem mittelständischen Betrieb.
Dieser Buchhalter buchhaltet 10000 Kontobewegungen und 30000 Kassenzettel pro Jahr.
Anschließend begutachtet ein Steuerberater die Arbeit des Buchhalters.
Und dann überprüft ein Finanzbeamter, ob die beiden ihn nicht übers Ohr gehauen haben.

Wie ist so etwas möglich?
So etwas ist grundsätzlich nur dadurch möglich, dass Buchhalter, Steuerberater und Finanzbeamte davon überzeugt sind, unsterblich zu sein.
Denn sonst würden auch sie alles daran setzen, möglichst viel Zeit damit zu verbringen, sich auszuruhen, gut zu essen und absichtslos Liebe zu machen.

Übrigens: Sterben tun immer nur die Anderen.
Das ist meine persönliche Erfahrung
Ich bin seit 66 Jahren auf dieser Welt.
Es sind, warum auch immer, immer nur die Anderen gestorben.
So wollen wir es weiter halten.